Herr Micus, um zu Ihnen zu kommen, muß man eine weite
Reise machen, aus der Mitte der Zivilisation und Technik heraus in eine
ganz besondere Welt: malerische Landschaft, Wind und Weite, lebendiges
Wasser, Ruhe... Sie leben seit 18 Jahren hier auf der Insel Ibiza. Man
spürt, daß Ihnen dieser Ort mehr bedeutet als nur Zuflucht.
Was hat Sie bewogen, Ihren Arbeitsplatz, Ihren Lebensraum hierhin zu verlegen?
Eduard Micus: In Deutschland weiter zu leben, schien mir nicht mehr viel
zu bringen, es war mir vertraut. Ich kannte das Gerangel, das ständige
Bemühtsein, dabei zu sein, und ich wollte davon frei werden, wollte
Zeit haben für meine Arbeit. Ich begann, mit meiner Zeit zu geizen.
Ich war 45 Jahre alt, als ich mich entschloß, hierher zu gehen.
Ich habe auch gespürt, daß die Verbindung zu den archaischen
Dingen, die ich hier vorfand, sehr wichtig ist. Schon bei meinem ersten
Aufenthalt 1966 wußte ich, daß dies ein Platz ist, der mir
viel von dem erschließen würde, was ich in Deutschland vermißt
oder nicht beachtet habe. Hier gibt es Bäume um mich herum, die zweitausend
Jahre alt sind. Das hat mich sehr beeindruckt. Hier habe ich auch begriffen,
daß Bilder so ähnlich sein müssen, so selbstverständlich,
so organisch wie ein Baum, wie ein Blatt, wie eine Blume, wie etwas, das
wächst. Ein Bild muß etwas Selbstverständliches sein,
an dem man nichts aussetzen kann, etwas, was eine innere Logik hat. Das
zu finden, ist mir hier leichter geworden.
Friedhelm Mennekes: An einen Ort des Massentourismus?
E.M.: Heute hat sich enorm viel verändert. Ich erwähne den Namen
Ibiza gar nicht mehr so gerne, weil mich das, was ich eigentlich verlassen
wollte, hier wieder eingeholt hat. Was man "Fortschritt" nennt,
die ganze Zerstörung, die in Deutschland stattgefunden hat, wiederholt
sich hier. Alle schönen Plätze verändern sich, ziehen die
Menschen an, und die hinterlassen ihre Spuren. Wer dem entgehen will,
ist ständig auf der Flucht. Mit einigen Jahren Vorsprung kann man
zufrieden sein: die habe ich. Es gibt an vielen Stellen der Insel noch
das archaische Ibiza, voll Vergangenheit, das Kraft hat, wie kein anderer
Platz in Europa, den ich kenne. Ich bin immer noch gerne hier, und ich
glaube, daß es ein wichtiger Schritt für meine Arbeit war.
F.M.: Immerhin scheint es so etwas wie eine Zeitversetzung zu geben, eine
Zeitverschiebung. Zudem hat ihr Haus etwas Klösterliches an sich:
die Abgeschiedenheit, die weißen Wände, die Atmosphäre
von ernsthaftem Suchen. Es wirkt wie ein Ort der Selbstfindung.
E.M.: Manchmal ist es so. Aber ein Kloster ist doch etwas Stärkeres.
Ein Ort, an dem sich noch mehr konzentrieren und besinnen kann, wo man
Überlegungen anstellt, die einem in einer anderen Umgebung nicht
einfallen würden.
F.M.: Wenn ich an Deutschland denke und dann diese Mittelmeer-Insel erlebe,
wenn ich den Tourismus sehe und dann hier die Abgeschiedenheit auf dem
Hügel im Landesinnern, dann spiegelt sich für mich eine Spannung
wieder, die für Ihre Bilder charakteristisch ist: auf der einen Seite
volles Leben, Konfrontationen, auf der anderen Seite Abgeschiedenheit,
Konzentration, Leere. Interessant finde ich, daß sich bei den Orten
wie in Ihren Bildern die Polaritäten nicht ausschließen, sondern
berühren, überschneiden.
E.M.: Ich habe vieles von dem, was in meinen weißen Bildern liegt,
hier wiedergefunden. So habe ich mich von Anfang hier wie zuhause gefühlt,
wie an einem Ort, der für mich richtig ist.
F.M.: Wenn man Ihre Entwicklung überblickt, wird deutlich, daß
diese Kontraststruktur bereits in den frühen fünfziger Jahren
geboren wurde, und zwar nicht als ein geometrisches oder konstruktives
Aufteilungsprinzip, sondern als dynamische Elemente, die sich gegenseitig
entdecken und zueinander freisetzen.
E.M.: Ich habe diese Aufteilung und diese Gegenüberstellung nie als
Abtasten der Vielfalt von bildnerischen Möglichkeiten gesehen. Jeder
Maler kommt ja irgendwann mal darauf, Kontraste gegeneinander zu setzen.
Willi Baumeister hat mich einmal gefragt, ob ich eine asiatische Großmutter
hätte. Wie das bei mir anfing und woher das kommt, weiß ich
nicht. Diese Polaritäten begannen sich früh in meinen Bildern
zu verfestigen und haben mich nie mehr verlassen. Ich werde natürlich
immer wieder gefragt, warum ich diese "leere" Hälfte der
"gefüllten" gegenübersetze und was das bedeute. Ich
sage dann, das seien zwei Pole, die in jedem von uns zu erfahren sind:
das Laute und das Stille, das Tote und das Lebendige, die Emotion und
der Verstand...
F.M.: Mit Gegensätzen zu arbeiten, also mit Schwarz und Weiß,
Hell und Dunkel, Gerade und Gekrümmt, konstruktiv oder informell
usw., das ist ja etwas, was in der Kunst gang und gäbe ist. Das Besondere
bei Ihnen ist aber, daß Sie den Gegensatz als solchen zu einer formalen
Bildidee erheben, die sich wie eine klärende Raison über Ihr
ganzes Werk legt und dem Sie alle anderen Einzelideen unterwerfen. Sie
eröffnet eine unendliche Weite der Kombination. Sie wirkt wie ein
erstes Prinzip zur Ordnung, zur Durchdringung und auch zur Formung von
Bildideen?
E.M.: Wenn das nur ein formaler Zugang gewesen wäre, hätte es
längst ein Ende gefunden. Die Sache hat vielmehr mit meiner Person
zu tun, aber es ist schwierig, das mit Worten zu erklären: das versuche
ich ja in den Bildern. Ich bin selbst immer neugierig, was da noch an
neuen Kombinationen und Ausdrücken zutage kommt. Ich sehe heute viele
Dinge ganz anders als früher. Meine Bilder sind virulenter geworden,
unruhiger; das sind Zeiteinflüsse, die da hereinspielen. Es gibt
Dinge, die mich heute bedrücken, obwohl ich sie früher nicht
als belastend empfand. Was um mich herum passiert, kommt in diese Bilder
hinein. Und ich merke, daß ich mit dieser Bildkonzeption noch lange
nicht am Ende bin.
F.M.: Es gelingt Ihnen ja überraschenderweise, einerseits diesem
Formprinzip treu zu bleiben, und zum anderen zu immer wieder neuen Formfindungen,
Materialassoziationen und so zu neuen Aussagen zu kommen. Sie wissen ein
Thema ebenso gut spirituell wie existentiell, etwa politisch, aufzuladen.
Dennoch wirkt dieses Prinzip der Polarität weder als eine Zwangsjacke
noch als eine leere Hülle, und das seit über 35 Jahren.
E.M.: Früher haben mich politische Fragen nicht sehr berührt,
aber z. B. die Studentenunruhen, die 68er Jahre waren eine wichtige Zäsur
für mich, weil ich da zum ersten Mal begriff, was gesellschaftliche
Zusammenhänge sind. Ich begriff auch, welche Wirkung es haben kann,
Stellung zu beziehen. Alles das lasse ich heute in die Bilder hinein,
deshalb sind sie virulenter und unruhiger geworden. Eine Zeitlang dachte
ich, ich sollte die Kunst an den Nagel hängen, um visuell direkt
politisch wirksam zu werden. Das war übrigens so eine Fehleinschätzung
der 68er Jahre. Das funktionierte nicht. Natürlich ist Kunst auch
politisch wirksam, aber nicht ad hoc, sie wird erst über lange Zeiträume
hin wirksam. Beuys hat einmal auf die Frage, ob Kunst die Gesellschaft
verändere, geantwortet: "Ja, was sonst?" Das hat mir sehr
gut gefallen. Aber ich weiß, daß das nur ganz kleine Schritte
sind, ganz kleine Muster und ganz kleine Prozesse, die wir mit den Bildern
angehen können. Es sind die Bilder, die niemand bestellt hat, über
die wir Künstler uns vielleicht selber wundern. Die wirksamsten sind
die, die gestern noch als Fehler galten. Aber oft drängt es mich,
mit den Mitteln, die ich beherrsche, mich direkt bemerkbar zu machen,
und zwar so, daß es von den meisten verstanden wird. Das heißt
imgrunde: man müsste Plakate machen.
F.M.: Oder fotografieren?
E.M.: Ja, aber das ist ein anderes Medium.
F.M.: Wir leben ja in einer Zeit des Fotos und der aktuellen Berichterstattung.
Und hier gerade wird eine erschreckende Ohnmacht deutlich, ich denke z.B.
an die Reportagen vom Vietnam-Krieg oder von anderen Konflikt- oder Kriegszonen.
Wir nehmen das Furchtbare eigentlich gar nicht mehr als solches wahr,
d.h. wir lassen diese Ebene gar nicht mehr an uns heran. Auch mit geistigen
Dingen ist es so, etwa mit der Demokratie, für deren wahre Fragen
und Probleme wir nicht mehr sensibel sind. Wir erleben auch hier eine
gewisse Abstumpfung. Die Sache der Politik, d.h. der Gerechtigkeit, der
Freiheit und des Friedens, die wird gar nicht mehr verhandelt. Deshalb
müssen wir auf eine andere Ebene der Kommunikation, der Reflexion
und der Auseinandersetzung zurück, dorthin, wo die wirklichen Dinge,
um die es geht, noch zu prägen sind. Das sind Ideale, Utopien, Träume
von einer besseren Welt. Kunst hat eine ähnliche Funktion wie die
politische Philosophie: den Menschen eben nicht an der Oberfläche
äußerer Erfahrung zu bewegen, sondern da, wo der innere Kern
seines Denkens und Empfindens sitzt.
E.M.: Das ist ja auch bei längerem Nachdenken das Motiv, weiterzumachen,
selbst wenn der Kreis, der diese Bilder lesen kann, sehr klein ist. Man
muß in größeren Zeiträumen denken, und jeder sollte
das tun, was er am besten kann.
F.M.: Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Humanität für Sie ein
zentrales Anliegen. Hier kommt ein Stück von dieser Zielperspektive
der Kunst und ihrer gesellschaftlichen Relevanz zur Sprache.
E.M.: Ja, das ist ganz sicher so. Das ist die größte Möglichkeit,
die man mit der Kunst erreichen kann; humanitäre Gefühle und
Empfindungen zu wecken. Darum lohnt es sich auch, jede Krise als Künstler
durchzustehen und weiterhin Bilder zu malen.
FM.: Wenn ich Ihre Bilder mit dem didaktischen Interesse betrachte, zeitgenössische
Kunst an Menschen von heute heranzubringen, die normalerweise keinen Kontakt
dazu haben, dann bin ich über die strukturelle Aufteilung Ihrer Bilder
äußerst beglückt. Mehr als jede Hinreichung, die man sich
für ein Bild wünschen möchte, verweisen sich die beiden
Bildhälften aufeinander.
E.M.: Ja, ich sehe das an den Reaktionen vieler Betrachter, für die
das zu meiner Überraschung gar keine Schwierigkeit darstellt. Oft
sagen Leute erstaunt: "Da ist ja gar nichts drauf!" Aber das
ist nur ein kurzer Augenblick. Viele Menschen, die mit meinen Bildern
leben, haben mir gesagt, daß diese leere Seite für sie sehr
wichtig ist. Es ist auch eine Frage der Stimmung, wie man auf ein Bild
reagiert. Wenn jemand nervös oder abgespannt nach Hause kommt, dann
ist so eine ruhige Fläche etwas sehr Starkes, etwas Beruhigendes,
mit dem man leben kann. Wenn ich ein Bild habe, das nur Virulenz zeigt,
und selbst durcheinander bin, dann kann ich mit einem solchen Bild nicht
leben. Ein Bild, das nur unsere Schwierigkeiten wiederholt, bringt nichts.
Freilich kann ich diesen Schwierigkeiten nicht aus dem Wege gehen, selbst
hier nicht, in dieser neuen Isolierung, in der ich mich befinde. Dennoch
müssen wir auch für diese Dinge eine Form finden, die die verschiedenen
Aspekte glaubhaft miteinander verbindet. Nur dann kann ein Betrachter
aus einem Bild etwas mitnehmen.
F.M.: Ich sehe in Ihren Bildern einen existentiellen Zug, nämlich
den Menschen zu etwas ihm ganz Eigenen und ganz Wesentlichen freizusetzen.
Das gibt ja dem Menschen die große Chance, sich selbst übersteigen
und auf einen Horizont heben zu können, von woher er sich zurückziehen
und neu anfangen kann.
E.M.: Richtig, wenn jemand in den Bildern, die er sieht, sich nicht wiederfindet,
lassen sie ihn völlig gleichgültig. Ich vergleiche das oft mit
Räumen: Wenn ich ein Zimmer habe, das durcheinander ist, in dem es
drunter und drüber geht, möchte ich in ein Zimmer, das leer
ist und still, das ohne Spuren von mir ist. In beiden Räumen finde
ich mich. Jeder hat diese beiden Pole solange er lebt. Das soll auch in
meinen Bildern sein.
F.M.: Ja, aber bei Ihnen ist das nicht nur "wie in einem Spiegel",
sondern mehr wie ein Auftrag zur Spiegelung. Die Spiegelung wird aufgegeben.
E.M: Wenn Bilder etwas mit menschlichen Empfindungen zu tun haben, wenn
sie glaubhaft sind, entsteht das von selbst.
F.M.: Die auf den ersten Blick hin weniger gestaltete Fläche haben
Sie einmal als Halt bezeichnet. Auf der einen Seite werfen Sie sozusagen
die Fülle des Lebens aus und setzen dabei wirkliche Spannungen frei
bis hin zum Politischen; auf der anderen Seite fangen Sie diese z. T.
chaotische Fülle wieder in eine Strenge und in eine Form ein.
E.M.: Um beiden Polen gerecht zu werden, um beide zu berücksichtigen.
Keiner ist nur gut, und keiner ist nur schlecht. In jedem von uns sind
beide Seiten vorhanden; das weist uns als Menschen aus und will angesprochen
werden. Die ruhige Zone hat dabei keinen geringeren Stellenwert. Sie ist
für die Aussage des Bildes ebenso wichtig wie die andere. Wenn ich
die eine Seite wegnehme, wird es ein anderes Bild.
F.M.: Je länger ich mich Ihren Bildern aussetze, um so mehr gewinnen
die "leeren" Flächen an Lebendigkeit. Auch schon deshalb,
weil sie gar nicht leer sind: vielfach ist genausoviel Gestaltung drin
wie in den anderen. Hier wird diese Polarität vollends gegenläufig.
Der Ort, wo ich im Bild angesprochen werde, wechselt.
E.M.: Wunderbar, wenn das rüberkommt. Wir alle wechseln ständig
unseren Standort, wir gehen von hier nach da, wir empfinden jede Stunde
anders. Die ruhige Hälfte macht die unruhige noch unruhiger, und
die unruhige Seite macht die ruhige Seite ruhiger. Ein Beispiel: Wenn
ich Rot habe und setze Weiß daneben, dann wird das Rot durch das
Weiß viel aufregender, viel aktiver, als wenn noch mal Rot daneben
stehen würde. Jede Gegensätzlichkeit steigert sich und bekommt
durch das Konträre größere Intensität. Das ist die
Erfahrung, die zu meinen Bildern geführt hat, und sie hat sich als
Bildkonzept langsam, über viele Jahre hin, entwickelt. Wenn es ein
ausgeklügeltes, kopflastiges System wäre, dann wäre das
sicher längst zu Ende. Aber diese beiden Pole haben etwas mit dem
Menschen zu tun.
F.M.: Irgendwo finden sich in dieser Art der Malerei kunstgeschichtlich
gegensätzliche Realisierungen wieder, etwa Kubismus oder Informell.
Es gibt eine rationale Ordnungsform, in die hinein die Situation, das
Leben, die Empfindungen fließen. Sie sind ja ein Mann, der keine
Bilder vorplant. Sie haben eine gewisse Rahmenvorstellung und können
dann den Augenblick in das Bild hineinnehmen.
E.M.: Ja, das ist richtig. Ich mache keine Skizzen und keine Entwürfe.
Ich fange an und hoffe und möchte, daß das, was sich an Intensität
entfaltet, in den Bildern bleibt. Ich habe ein Gerüst, in dem ich
mich auskenne, zurechtfinde. Jeder Maler hat dieses Problem: ein Gerüst,
eine Form zu finden, in der er sich ausdrückt. Das ist eine ganz
wichtige, grundsätzliche Voraussetzung, die vielen gar nicht so bewußt
ist, daß die Form entscheidend ist für das, was man aussagt.
Ohne eigene Form kann ich vieles erzählen, aber weniges glaubhaft.
F.M.: Manche Ihrer Bilder haben einen Klang, der mich an frühe Studien
bei Cezanne erinnert, wo Farbelemente eine Form aufbauen. Ich glaube,
solche kunstgeschichtlichen Bezüge sind für Sie sehr wichtig.
E.M.: Ja, sehr wichtig. Ich werde mich hüten, Tradition über
Bord zu werfen. Ich bin Maler, weil ich versuchen möchte - das klingt
anmaßend - der vorhandenen Malerei etwas hinzuzufügen. Die
Orientierung an dem Vorhandenen hilft mir, eine Geschichte nicht zweimal
zu erzählen - somit besetzte Plätze zu respektieren. Wie will
ich sonst erfahren, was schon gültig formuliert worden ist, und vermeiden,
meine Zeit zu verplempern.
F.M.: Sie haben einmal den Satz formuliert, der in der Baumeister-Klasse
an der Stuttgarter Akademie herumgereicht wurde: "Wir machen keine
Bilder, wir studieren sie".
E.M.: Wir haben bei Baumeister die Malerei gelernt wie ein Musiker seine
Klaviatur. Es ging immer wieder um die visuellen Möglichkeiten, von
ihm mit einfachen, elementaren Mitteln faszinierend präsentiert und
von uns aufgenommen, bis es voll drin war. So wie ein Musiker nicht an
die Tonleiter denkt, wenn er spielt, so denke ich nicht, wenn ich male.
Das habe ich vorher gemacht. Während des Malprozesses ist die Reflexion
ausgeschaltet. Das ist für mich ein ganz wichtiger Punkt. Im Moment,
wo ich anfange zu reflektieren, ist eigentlich das Abenteuer zu Ende,
ein Bild zu malen, weil ich dann kalkuliere. Dann kommen die bewährten
Elemente hinein, die ich schon einmal formuliert habe, und damit ist jeder
Neuigkeitswert, jedes Weiterkommen von Bild zu Bild ausgeschlossen.
F.M.: Ich glaube, das ist in einer Kultur, die sehr stark vom Berechnen,
vom Konstruieren lebt, eine der aktuellsten Funktionen der Kunst: das
Kreative des Augenblicks fassen; das Leben, einen Prozeß vom Verlauf
her begrüßen und nicht nur von seinem Ergebnis, von seinem
Ziel her.
E.M.: Wenn Kunst einen Sinn hat, dann den, vorhandene Verkrustungen aufzubrechen.
Baumeister hat oft zu uns gesagt, seine Aufgabe sei es, "uns zu leeren".
Er hat damit gemeint, daß man frei werden muß von den Bildern,
die einem im Kopf herumschwirren, die man irgendwo einmal gesehen hat.
Das alles gilt es erstmal rauszubringen. Man muß frei werden davon,
um neu anfangen zu können.
F.M.: Das hängt wohl auch mit Ihrer Vorliebe zusammen, Bilder auf
ganz einfache Elemente zu reduzieren, nicht selten auf nur einen Strich?
E.M.: Ja, ein Strich ist für mich etwas sehr, sehr Aufregendes. Ich
glaube an die ganz einfachen Formulierungen. Schon eine einzige Linie
hat eine gewaltige Aussagekraft. Es kommt nur darauf an, wie man sich
damit auseinandersetzt. Wenn eine zweite Linie dazukommt, dann wird das
schnell kompliziert, und wenn eine dritte dazukommt, dann ist das Programm
schon so, daß man Mühe hat, es zu bewältigen. Die Reduzierung
auf einfache Dinge ist ein gutes Rezept bei der Bemühung, durch Linien,
durch Farben einen Klang zu finden, der einem gemäß ist.
F.M.: Kunst hat eine Wendung nach innen und eine nach außen. Einerseits
gibt es den Aufbruch in das Reich der Farben und der vielfältigen
Formen: dann wiederum gibt es die Konzentration auf das ganz Wesentliche,
auf die Innenseite, sagen wir: "Punkt, Linie und Komma". Das
eine hat mit Begeisterung zu tun und fällt relativ leicht, das andere
mit Askese und Meditation, mit der Bereitschaft, alles, was man liebt,
wegzugeben. Es ist wie mit der mönchischen Tugend, alles zu verlassen,
um alles zu finden.
E.M.: Wenn ich ein neues Bild anfange, sitze ich vor dem leeren Papier
oder der leeren Leinwand und warte, bis ich alles um mich herum vergessen
habe, alles, was mich ablenken könnte. Der jeweiligen Verfassung
entsprechend, entsteht dann der erste Strich. Und der ergibt den nächsten.
Man spürt bei jedem Strich ganz genau, ob er stimmt oder nicht. Wenn
er nicht stimmt, muß ich ihn ändern, oder ich muß den
nächsten Strich so setzen, daß er in den Formenkanon, der entsteht,
aufgenommen wird. So geht das weiter: ein Strich bedingt den nächsten,
bis ein Rhythmus entsteht, der so organisch und selbstverständlich
ist wie ein Baum. Das Endergebnis muß so in sich stimmen, daß
man genau wie bei einem Baum nicht sagen kann: das Blatt da oben, das
müßte ein bißchen mehr nach rechts, unten fehlt noch
was... Am Ende darf keine Korrektur mehr nötig sein. Das klappt aber
nur, wenn man völlig frei ist von Spekulationen und Reflexionen.
Das hat natürlich was Meditatives.
F.M.: Meditieren Sie beim Malen? Versetzen Sie sich in eine meditative
Stimmung?
E.M.: Ja, das könnte man vielleicht so bezeichnen. Ich konzentriere
mich auf die leere Leinwand. Manchmal ist es gut, wenn man gar nichts
draufmacht, wenn man es bleiben läßt. Dann ist sie nicht verdorben.
Um sie nicht zu verderben, darf man keine Absichten haben.
F.M.: Man muß wirklich vor jedem Bild erneut leer werden. Man muß
diese geistig spirituelle Anstrengung auf sich nehmen, um diese Leerwerdung
zu erreichen, um dann gleichzeitig, unter Zuhilfenahme von sehr kargen
Formen, freizuwerden für eine bildnerische Innovation?
E.M.: In einem guten Bild muß es "spuken". Aber wie soll
es spuken, wenn man reflektiert, an dies und jenes denkt. Dann spukt es
sicher nicht, dann ist es vielleicht effektvoll oder provozierend. Das
kann man alles mit Absicht machen. Aber das hält nicht, das ist zu
vordergründig. Da ist die Absicht vorhanden, und die ist einem guten
Bild immer im Wege.
F.M.: Ist das auch der Grund, warum Sie sehr stark zu malerischen, kunstimmanenten,
abstrakten Formen gegriffen haben? Sie sagen sich: Linie, Farbe, Material,
das sind die Dinge...
E.M.: ...mit denen ich alles sagen kann. Natürlich bin ich abhängig
von Stimulationen, je nach dem, was ich sehe, was ich erlebe, was mit
mir passiert. Das alles fließt in die Bilder hinein. Aber das kann
ich mit einfachen, elementaren Mitteln formulieren.
F.M.: Es gelingt ihnen also durch eine Art meditativer Kraft, diese innere
Gestimmtheit in ganz einfache Formen umzusetzen? Ein Bild ist dann für
sie gut, wenn in diesen elementaren Formen eine Fülle des Lebens
angesprochen wird?
E.M.: Ja, das ist mit einfachen Mitteln möglich. Die Kunst braucht
keine Maschinen und keine Laserstrahlen. Das kann ja alles ganz witzig
sein, aber um mich auszudrücken, brauche ich das nicht. Da ist eine
Linie, sie ist sehr mächtig und kann sehr viel erzählen. Es
gibt nur dann Sinn, ein Bild zu malen, wenn es gelingt, das eigene Chaos
in ein System zu ordnen. Und das muß man spüren.
F.M.: Gerhard Altenbourg hat einmal gesagt, er ginge am liebsten nachts
spazieren, weil sich dann die sinnlichen Eindrücke, die Farben, die
Räume, die Geräusche reduzieren; die Wahrnehmung und die Selbstfindung
werden begünstigt.
E.M.: Ich bin immer wieder gerne Dampfer gefahren, die Weser aufwärts,
nicht abwärts, abwärts geht es immer zu schnell. Wenn dann am
Flußufer eine Ente steht oder eine Kuh oder ein Pferd, dann ist
es so, als hätte ich noch nie eine Kuh oder eine Ente oder ein Pferd
gesehen. Weil ich sie langsam sehe. Wir sind zu sehr an die Geschwindigkeit
des Autos gewöhnt.
F.M.: Der Bezug zu den einfachen Formen schlägt sich ja auch in Ihren
Materialien nieder. Es sind sehr einfache Materialien, die sch aber in
ihrer Materialität stark entfalten. Ich denke an Papier, Pappe, Stoff,
Holz, altes Holz...
E.M.: Was nicht beachtet wird, was landläufig als Abfall gilt, was
wir mißachten, das ist als Material sehr aufregend, obwohl es keinen
Wert darstellt. Wenn dann daraus ein Klang entsteht, dann st es ein sehr
schönes Erlebnis.
FM.: Das kann man vielen Ihrer Arbeiten nachempfinden. Sie enthalten nicht
selten Dinge, die irgendwo weggeworfen worden sind. Sie haben sie mit
Ihrem Sehen neu entdeckt und ins Leben zurückgeholt. Dort fangen
sie ganz neu zu strahlen an, sie erhalten einen ganz neuen Glanz.
E.M.: Ja, das ist aufregend. Es gibt so unendlich viele Dinge, die rumliegen,
und wir nehmen sie nicht wahr.
F.M.: In Ihrem Haus finden sich um Ihren Eßtisch herum sogar plattgewalzte
Eimer, Kannen, Auspuffrohre.. .
E.M.: ... Blechdosen usw. Ja, das legt am Weg rum, jeder tritt drüber
und keiner registriert es. Diese Dinge können unwahrscheinlich schön
sein. Sie haben eine innere Logik. Da ist ein Auto drübergefahren,
und schon gibt es Faltungen, die sind ganz logisch und selbstverständlich.
Da kann man auch nicht sagen: Diese oder jene Falte ist falsch. Niemand
hat bei der Entstehung dieser Gebilde gedacht. Der Mensch hat mit Bewußtsein
nicht eingegriffen, er ist mit seinen krausen Gedanken nicht daran beteiligt.
Das ist für mich der Beweis dafür, daß es nicht gut ist,
beim Prozeß des Malens, beim Herstellen des Bildes, zu denken. Man
kann es ganz selbstverständlich erreichen. Nur Kinder können
das. Wir Erwachsenen bemühen uns oft ein Leben lang, diese Fähigkeit
wiederzugewinnen.
F.M.: Herr Micus, was verstehen Sie unter Abstraktion?
E.M.: Abstraktion hat mit Einordnen mit Ordnen des Wesentlichen zu tun.
Um ein Beispiel zu geben: Es gibt Hunderte von Marienbildern, aber nur
ganz wenige interessieren uns heute. Obwohl viele mit hoher Perfektion
gemalt sind, berühren uns nur ganz wenige. Hunderte liegen in den
Kellern der Museen, die uns nicht ansprechen. Warum? Weil etwas an der
Art nicht stimmt, wie sie aufgebaut sind, oder weil die zu geringe Übersetzung
vom reinen Abbild sie nicht zeitlos werden lässt. Am Grad der Abstraktion
erkennt man aber das Besondere und Meisterhafte.
F.M.: Abstraktion ist für Sie die Art, ein Bild zu setzen?
E.M.: In dem Moment, wo ein Maler sich entscheidet, welche Raumaufteilung
sein Bild
haben soll - etwa wie Caspar David Friedrich,
wenn bei ihm 3/4 der Leinwand zum Himmel
werden - ist das Wesentliche des Bildes festgelegt. Selbst interessante
Details ändern
nichts daran. Der Aufbau und die Zuordnung
der dargestellten Dinge bestimmen das Bild.
Ob das Dargestellte mit rein abstrakten Mitteln
formuliert wird oder mit Zuhilfenahme von
Gegenständen, ist nicht wesentlich. Allein die
Form, in der sch Linien, Farben darstellen, ihre
Zuordnung, ist der eigentliche Abstraktionsvorgang. Die Erkennbarkeit
des Dargestellten
allein oder lediglich die Anhäufung von Linien
und Farben sind noch kein Wert. Proportionen
und das, was zwischen den abgebildeten Dingen ist, die Abstände des
Dargestellten zueinander und die Spannungen, die sich daraus
ergeben, sind es. Was sich in dem Bild eines
Meisters z. B. zwischen seinen Figuren an Formen bildet, ist genauso wie
das vertraut Ablesbare entscheidend dafür, ob das Bild ein
Geheimnis wird. Und so ist das heute noch.
Jedes gute Bild ist ein Geheimnis, das uns als
Kunst angeht.
F.M.: Abstraktion als Strukturierung?
E.M.: Ja. Das Negativ ist genauso wichtig wie
das Positiv.
F.M.: Diese Art der Findung abstrakter Formen hat sie ihren geschichtlichen
Ort?
E.M.: Sicher, immer sind Zeiteinflüsse in eine
Form zu bringen. Ich kann ja die Zeit, in der ich
lebe, gar nicht ausklammern. Nur das, was
heute um mich herum passiert, stimuliert mich
letztlich, greift mich an, fordert mich heraus,
mich zu äußern, Stellung zu beziehen. Und das
geht nur durch eine Form, eine Form, die authentisch ist und nur mir zu
eigen. Es gibt keine
Bildgestaltung, die nicht durch Abstraktion
erreicht wird. Erst durch Abstraktion wird ein
Bild eine geistige Sache, ohne sie bleibt es im
platten Naturalismus hängen. Auch ein
gegenständlicher Maler kommt nicht ohne
Abstraktion aus, wenn er seine Form finden
will.
F.M.: Die Abstraktion ist...
E.M.: ...die Voraussetzung für das Finden einer Form - sonst ist
es ein beliebiger Brei.
Wenn man ein Bild von Breughel auf den Kopf
stellt, erkennt man die Details, die Mimik und
was da sonst alles drauf ist nicht mehr, aber,
daß es ein Breughel ist, erkennt man immer
noch. Das ist Abstraktion, das ist Form - und
was für eine! Natur ist eine Sache für sich, und
Kunst ist eine Sache für sich. Ein Bild wird erst
dann zur Kunst, wenn es mit den Mitteln der
Malerei - also Abstraktion, Proportion, Farbklang - wenn es dem, was die
Natur an Vielfalt
und Schönheit uns bietet, etwas hinzufügt:
durch einen Menschen geformt. Natur ist eine
schöne Sache, Kunst ist eine schöne Sache.
Wir leben von beiden, weil wir das Bedürfnis
haben und so sind, daß wir außer Brot und
Wen noch etwas für unsere Seele brauchen.
(9) Micus, Katalog Eigenverlag, 1999, S. 122 - 126
In leicht veränderter Form in:
(6) Micus Katalog, Overbeck-Gesellschaft St. Petri Lübeck,1989, S.
24 - 30
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