Erich Franz: Eduard Micus -Der aktivierte Bildgrund 2013

Eduard Micus' Jugend wurde zwischen 1932 und 1944 - seinem achten
bis 20. Lebensjahr - von langjährigen Krankenhausaufenthalten
bestimmt, wohl bedingt durch eine Knochentuberkulose.1 Im Bett fing
er an zu zeichnen und zu malen. Ein zehn Jahre älterer Maler, der
Käthe-Kollwitz-Schu?ler Reinhard Schmidhagen, ermutigte ihn 1943/44
in einem Marburger Krankenhaus. Ab 1945 probierte Micus in Höxter
ganz fu?r sich alle möglichen Maltechniken. 1947 stellte er dort
die Ergebnisse in vier Schaufenstern einer Buch- und Kunsthandlung
aus: Landschaften, Blumensträuße und Bildnisse, impressionistisch
getupft, darunter eines von Schmidhagen, der bald nach Herstellung
des Porträts im Jahr 1945 verstorben war. Es sind keine lichterfu?llten
Eindru?cke, sondern feste Oberflächen aus stumpf und pastos aufgestrichenen
Farben. Außerdem hatte Micus den Kubismus fu?r sich
nachgeholt, ebenfalls in Blumenstillleben und stilisierten Porträts aus
winkeligen Geraden und einander durchschneidenden Farbflächen.
Diese harmlosen Experimente zogen in einem heute kaum noch vorstellbaren
Maße den Zorn von Höxteraner Bu?rgern auf sich: In der
Nacht nach der Eröffnung strich man die Fenster von außen weiß zu
und drohte, die Scheiben einzuschlagen.2
Der Skandal machte Micus ein wenig bekannt; im Sommer 1947
konnte er sogar an einer Ausstellung in der Städtischen Kunsthalle
Du?sseldorf teilnehmen.3 Nun, mit 23 Jahren, entschloss er sich,
ein Kunststudium zu beginnen und entschied sich, an die Stuttgarter
Akademie zu Willi Baumeister zu gehen. Fu?r den ku?nstlerischen Weg
von Micus war dies ein folgenschwerer Entschluss.
Baumeister war in der unmittelbaren Nachkriegszeit der wichtigste
Maler in Deutschland, der nicht vom Expressionismus herkam. Fritz
Winter oder Ernst Wilhelm Nay trugen bewegte Pinselspuren auf den
Malgrund der Leinwand auf. Baumeister hatte eine andere Bildauffassung:
Bereits der Bildgrund selber gehört zur Malerei. Als mauerartige,
raue Oberfläche tritt er nach vorne; die malerischen Formgebilde
liegen nicht "auf" ihm, sondern wirken wie eingedrungen in
diesen Grund, wie in ihn eingetieft. Die gemalten Formen gehören
also wie der Grund zur gleichen materiellen Oberfläche. Mit ihren
zerfaserten und aufgebrochenen Rändern stellen sie sich nicht vor
ihn, erzeugen auch keine illusionäre Tiefe, sondern liegen in einer
Ebene mit der undurchdringlichen Fläche. Oft wirken sie wie eingesunken,
sodass man nur noch Fragmente von ihnen zu erkennen
meint, die partiell aus dem Untergrund hervorkommen - als Reste,
Ruinen und zeichenhafte Andeutungen. Baumeister hatte bereits Anfang
der 1920er-Jahre sogenannte Mauerbilder realisiert, die reliefhaft
aus der Wand hervorwachsen.
In seinen Sandbildern von 1933/34 hatte er die Bildfläche weiterhin
materiell verschlossen. Figurenhafte Restformen betonen diese
Undurchdringlichkeit der Bildoberfläche. In seinen Reliefbildern der
1940er-Jahre wirken die flachen Zeichen wie Erinnerungen - an archaische
Fru?hformen, etwa an Gilgamesch. Je starrer die Formfragmente
mit der Fläche verwachsen, desto nachdru?cklicher rufen sie
ein "bewegtes Sehen" hervor, durch das diese Andeutungen erst
zum Leben erweckt werden.4
Von Micus sind aus dem Jahr 1949 Monotypien erhalten, in denen
die Linien ebenfalls nicht u?ber die Fläche verlaufen, sondern
gewissermaßen in die noch feuchte Druckerschwärze einsinken, sie
durchfurchen und mit ihr zusammen einen Abdruck auf dem Papier
bilden. Ab 1950 umschließt eine weißlich-graue Struktur wie körniger
Wandputz die zeichenhaft eingesetzten und weich angedeuteten
Formen - ganz ähnlich wie bei Baumeister. Im Unterschied zu ihm
streben bei Micus die Gruppierungen nach außen zu den Rändern
und lassen die Mitte frei. Bereits 1952 steht dann diese rauputzartige
"leere" Fläche gleichwertig einer gleich großen Fläche gegenu?ber,
die mit Formen ausgefu?llt ist. Es entsteht eine Bildteilung, die von
nun an Micus' Schaffen bestimmt. Eigentlich steht die "leere" Bildhälfte
der anderen nicht gegenu?ber, sondern setzt sich in ihr fort.
Und eigentlich kann man auch nicht von einer Bildteilung sprechen,
denn die mauerartige Oberfläche behält u?ber die gesamte Bildbreite
ihre gleiche Substanz. Auch wo Formen in sie eingefu?gt sind, wirkt
die helle Fläche als objekthafte Realität, zu der die gemalten hinzugehören.
Sie lassen keine andere, nur bildliche Realität entstehen.
Die "leere" Bildhälfte stellt dem Betrachter unu?bersehbar ihre reale
und objekthafte Präsenz vor Augen. Sie betont, dass das Helle nicht
nur als Untergrund fu?r eine gemalte Realität dient. Das Gemälde gehört
zur realen Welt, in der sich auch der Betrachter befindet. Folgerichtig
besitzt ein solches Bild auch keinen Rahmen, der es von der
Umgebung abgrenzt. Der Untergrund aus Karton oder Holz bildet
nicht nur den Träger von Malerei, sondern wird selber zu deren Bestandteil.
Die "leere", hell-materielle Hälfte lässt einen Rahmen nicht
zu. Er wu?rde ihr - und damit dem ganzen Bild - die unmittelbare
materielle Präsenz nehmen.
Damit gehört Micus zu den fru?hesten Ku?nstlern, die rahmenlose
Bilder geschaffen haben. Etwas fru?her, bereits seit 1949, hatte der
Amerikaner Ellsworth Kelly rahmenlose panel paintings realisiert,
und ab 1952 verwendete auch der Franzose François Morellet weiße
Bildtafeln, die er frei vor der Wand platzierte.5 Im Unterschied zu
diesen Werken sind Micus' Bilder keine Objekte, die wie Tafeln vor
der Wand hängen. Ihre anti-illusionistische Realität ist eine gemalte,
gebildet aus aufgestrichener Farbe, und sie ist eine flächige, deren
Begrenztheit durch die halbierende Einteilung gebildet und bestätigt
wird. Die frei liegenden Kanten der weißen Bildflächen lassen sich
auch mit Piet Mondrians Kompositionen vergleichen, deren weiße
Flächen ebenfalls nicht als Grund zuru?cktreten und deren Bildränder
schon seit den 1920er-Jahren von einer zuru?ckgesetzten Leiste
eingefasst werden.6 Später - seit 1957/58 - werden dann Piero
Manzoni, Gu?nther Uecker, ab 1960 auch Robert Ryman objekthafte
weiße Bilder herstellen. Ganz im Verborgenen hatte schließlich der
Krefelder Ku?nstler Herbert Zangs ab 1952 flache Objekte mit gemalter
"Verweißung" u?berzogen; er kam also vom realen Objekt zu einer
Annäherung an das weiße Bild. Micus' fru?he, weitgehend weiße
Bilder stehen in diesem Zusammenhang einer "diesseitigen", in die
umgebende Realität eintretenden Objekthaftigkeit des Bildes.
Ebenfalls im Jahr 1952 glich Micus in einigen Werken beide Bildhälften
weitgehend einander an. Nur noch ganz am Rande einer Hälfte
blieb eine dreieckige Form-Spitze stehen. In einem biografischen
Ru?ckblick von 1977 schildert Micus, er habe "wochenlang an einem
Bild [gemalt], das sehr farbig werden sollte - u?brig blieb eine du?nne
schwarze Linie auf grauem Grund und ein kleiner, blauer Keil."7 Auch
bei diesen Bildern spu?rt man noch die verdrängte Form - verdrängt
von der materiellen weißlichen Farbe, die sich in den Vordergrund
schiebt. Sie zeigt ihr Gemalt-Sein - durch den Pinselduktus und die
unregelmäßig verlaufende Teilungslinie - und betont ihre Emanzipation
von ihrer Rolle als Hintergrund. Sie drängt sich nach vorne.
Micus verdankte diese "Objektivität" des Gemalten Baumeister.8
Doch befreite er, darin deutlich u?ber seinen Lehrer hinausgehend,
die objekthafte Grundfläche von ihrer engen Verbindung mit den
Formen: Er stellte sie ihnen entgegen. Später betonte er deren Materialität,
indem er die Fläche(n) nicht malte, sondern sie ab 1962 aus
Stoffbahnen zusammennähte und dann seit den 1980er-Jahren auch
mit anderen Materialien (Holz, Papier, Stoff, Metall) kombinierte. Was
Micus damit erreichte, formulierte er selbst sehr klar: "[…] beide Hälften
steigerten sich gegenseitig durch den Kontrast zu einer mir nicht
bekannten Intensität."9 Der Kontrast wirkt nicht als bloße Entgegensetzung,
sondern ebenso als Entwicklung des Einen aus dem Anderen:
der Bewegung aus der Ruhe, der Fu?lle aus der Leere - wobei
hier Ruhe und Leere immer auch in der Bewegung und der Fu?lle
enthalten sind.
In den ab 1962 entstandenen Coudragen - so bezeichnete Micus
seine zusammengenähten zweiteiligen Bilder - stellte er deren Materialität
heraus. Die grundierende Farbe findet auf der bewegten
Seite zu malerischer Entfaltung, aber auch der Stoff tritt, sich schichtend
- etwa in rechteckigen, gerissenen und geschnittenen Resten -
hervor, die Fläche öffnet sich, weicht auf, das gemalte Weiß bewegt
sich zwischen ungreifbaren Nebeln, schwebendem Licht und festeren
Klippen, es sinkt in dunklere Ströme ab, taucht wieder auf und tritt
reliefhaft hervor. Die Werke entwickeln malerische Dynamik, die jedoch
nicht aufgemalt ist, sondern stets mit dem Malgrund verschmilzt
und ihn selber dynamisiert. Der Stoff bildet Verläufe und Strukturen,
verbindet sich mit der Farbe und trennt sich von ihr, und ebenso trennen
und verbinden sich die Dunkelheiten und Farbigkeiten von und
mit dem grundierenden Weiß.
Im Laufe der 1980er-Jahre traten diese "malerischen" Materialien,
Farben und Formen zunehmend u?ber die rechteckige Bildfläche
hinaus.
Gefundenes hebt sich ab, Formen u?berschreiten die Ränder,
die selbst eingeschnitten oder angesetzt wirken. Das Schema der
Coudrage wird zunehmend u?berwunden, andere Materialien wie Holz
oder Pappe versteifen und zersplittern zugleich die Bildfläche. Die
"malerischen" Vorgänge bezeugen die Aktivität, aus der sie entstanden,
und entwickeln ihre spezielle Geschwindigkeit, etwa ein Schweben,
eine Leichtigkeit, ein Zerfallen, Sich-Auffasern, Rieseln, sogar ein
flockiges Sich-Auflösen oder ein sprunghaftes Hinaus-Fliegen.
All diese Aktivitäten des Bildes entfalten sich grundlos, wie Einfälle
ohne Regel, als immer neue Entdeckungen. Aber sie bleiben nicht
bloße Setzungen, sondern behalten stets die Verbindung zur Leere,
aus der sie entstehen und zu der sie sich als Differenzen - verschiedenster
Art - erweisen. Sie brechen auf, bis keine Grenze zum
umgebenden Raum mehr besteht. Und dennoch behalten sie bei all
ihrer materiellen Öffnung immer auch eine Kontinuität des Gemalten
und sogar des Leeren, des Grundes.
Als 1967 die Mitglieder der Ku?nstlergruppe SYN , zu der auch Micus
gehörte, ein Programm formulierten, das - wie damals u?blich - ihr
Verhältnis zur Gesellschaft thematisierte, betonten sie die Autonomie
der Kunst und sahen gerade in ihr ein gesellschaftsveränderndes
Potential: "SYN bevorzugt die autonome Malerei und Plastik als
die reinsten Bestätigungen bildnerischer Phantasie und Intelligenz
gegenu?ber Konsum-, Staffage- und Showkunst."10 Noch 1992 erinnerte
sich Micus an seinen Unterricht bei Baumeister. Bei ihm habe
er "zum ersten Mal kapiert, wie aufregend es ist, einen Gegenstand
aufzulösen, um auf den Extrakt, auf die Form kommen." Er betonte,
"dass das Wesentliche in der Malerei letztlich die Form ist."11 Man
könnte ergänzen: als Potenzial gesehener und erlebter Dynamik.
Erich Franz
1 Zur Jugend von Micus siehe Buekenhout, Monika: Bildeinheit - Bildteilung. Form und
Konzeption im Werk von Eduard Micus, unveröffentl. Magisterarb. Hamburg 1992, S. 4-8.
2 Ebd., S. 9. 3 Ebd., S. 10. 4 Baumeister, Willi: Das Unbekannte in der Kunst, Stuttgart
1947, S. 128. - Vgl. Franz, Erich: "›Bewegtes Sehen‹. Baumeister und die Moderne", in: Willi
Baumeister. Figuren und Zeichen, hrsg. von Heinz Spielmann, Ausst.-Kat. Bucerius-Kunst-
Forum, Hamburg, Westfälisches Landesmuseum fu?r Kunst und Kulturgeschichte, Mu?nster,
Von der Heydt-Museum, Wuppertal 2005/06, Hamburg 2005, S. 8-15, hier: S. 11. 5 Zu den
Anfängen des rahmenlosen Bildes siehe Franz, Erich: "Malerei und realer Raum. I. Momente
des ›Aufbruchs‹ 1950-1960", in: Aufbruch. Malerei und realer Raum, Ausst.-Kat. Situation
Kunst (fu?r Max Imdahl), Kunstsammlungen der Ruhr-Universität Bochum u. a. O. 2011/12,
Heidelberg 2011, S. 13-33, S. 198/199. 6 Micus nannte Piet Mondrian neben Gerhard
Hoehme und Piero della Francesca (Die Geißelung) als einen Ku?nstler, der fu?r ihn wichtig
war - "durch seine neuen Maße […], die Unerlässlichkeit, Malerei nicht haltlos, ungeplant,
ohne Begrenzung stattfinden zu lassen.", Micus, Eduard: o. T., in: Eduard Micus, Ausst.-
Kat. Galerie Vera Munro, Hamburg 1977, o. S. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Bechtold,
Erwin, Bernd Berner, Rolf-Gunter Dienst, Klaus Ju?rgen-Fischer und Eduard Micus: "12
Punkte […] SYN", in: SYN. Bechtold, Berner, R. G. Dienst, Ju?rgen-Fischer, Micus, Ausst.-
Kat., Nassauischer Kunstverein, Städt. Museum Wiesbaden, Wiesbaden 1967, zit. nach:
Buekenhout (wie Anm. 1), S. 65. 11 Buekenhout, Monika: "Interview mit Eduard Micus"
[April 1992], in: Buekenhout (wie Anm. 1), S. 15.